„Stier bleibt Stier – das lob ich mir“ sagte er

„Stier bleibt Stier – das lob ich mir“ sagte er

Bild: Blogartikel über Menschlichkeit, Gleichheit, Obdachlosigkeit, Ablehnung, Vertrauen, Hilfe, GesundheitswesenBitte! Stumpft nicht ab!

Lasst eure Gefühle nicht durch (schlechte) Erfahrungen erkalten.

Vor wenigen Tagen hatte ich ein nachdenklich und ratlos stimmendes Erlebnis.

Es ist Donnerstag. Ich sitze auf einer Bank. Meinen Skizzenblock vor mir. Dabei, das bunte Menschentreiben an einer UBahn Station zu zeichnen, als sich ein junger Mann zittrig neben mich setzt. Mein Blick wandert von seinen zerlöcherten Schuhen, über seine verschmutzte Hose, zu seiner schorfigen linken Hand. Ein Blick in sein Gesicht verrät seinen gesamten Zustand. Er hatte eine 2cm klaffende Wunde an der Oberlippe. Getrocknetes Blut und Dreck von der Straße bedecken die Wunde. Ich frage mich: was mag ihm wohl widerfahren sein. Hat er schmerzen. Braucht er ärztliche Versorgung. Möchte er sich helfen lassen?
Ein weiterer Passant kommt hinzu. Sie kennen sich. Der Passant spricht ihn an. Seit 3 Tagen bittet er den jungen Mann, in ein Krankenhaus zu gehen. Er weigert sich. „Stier bleibt Stier, das lob ich mir. Ich brauche keinen Arzt“ und nimmt einen Schluck aus einer Flasche. Diesen Satz wird er in den nächsten Stunden mehrfach wiederholen.
Der Passant fragt mich nach meiner Einschätzung. Ich nicke ihm zu. Sehe auch die Notwendigkeit einer raschen Versorgung. Daraufhin fordert der Passant den jungen Mann auf, mir seinen rechten Daumen zu zeigen. Vorsichtig und wohl unter größten Schmerzen zieht er seine Hand aus dem Jackenärmel. Was ich sehe, ist entsetzlich. Der Daumen ist auf die Größe eines Hühnereis angeschwollen. Dunkelblau mischt sich mit Schwarz und Gelb. Die Haut, gespannt und sichtlich dünn. Ich unterhalte mich mit ihm, während der Passant einen Notruf absetzt. Pauli (so möchte ich ihn hier nennen), erzählt mir von seinem Zustand, wie es passiert sei. Vier „Typen“ haben ihn zusammengeschlagen. Seinen Daumen zertrümmert. Seine Pfandflaschen geklaut. Mehr als seine Erzählung ist für mich Entscheidend: sein Zustand. Er ist ein wacher Kerl. Schnell im Kopf. Kombiniert aus meinen Worten meine Alter und vieles mehr von mir. Niemand, der im nur „Suff“ ist – wie es einige Vorbeigehende kommentieren. Natürlich ist seine Wodkaflasche sein treuer Begleiter – vielleicht sein einziger Halt? – an der er sich festklammert, wie ein Kind an seinen Eltern.
Zwischenzeitlich treffen Rettungswagen und Polizei ein. Er ist ihnen bekannt. Sie wissen um seinen „ablehnende“ Haltung. Die beiden Rettungssanitäter sprechen ruhig mit ihm. Versuchen ihn zum Mitkommen zu motivieren. Vergeblichst. „Stier bleibt Stier, das Lob ich mir“ – er verweigert die Hilfe.
Ich frage ihn, ob er im April oder Mai geboren ist. Pauli ist im Mai geboren und der Stier ist sein Sternzeichen. Ich bin ebenfalls im Tierkreiszeichen Stier geboren. Eine Gemeinsamkeit. Eine Verbindung! Ich biete ihm an, ihn in das Krankenhaus zu begleiten. Von Stier zu Stier. Zwei Stiere lassen sich nicht allein. „Ich bin für dich da!“. Ich sehe ein funkeln in seinen wachen Augen. Ein zaghaftes lächeln. Er stimmt zu. Einzige Bedingung. Nicht mit dem Rettungswagen, sondern mit dem Bus. Er nennt mir direkt die Busline und die Zielstation, inkl. Anzahl der Stationen. Wir haben einen Deal! Ich vertraue ihm. Er vertraut mir. Er weiß, ich habe keinen Nutzen, keinen Vorteil, wenn ich ihn ins Krankenhaus begleite. Einzig mein bedingungsloses Interesse an ihm – als Mensch.
Nach 15 Minuten Busfahrt und 25 Minuten Fußweg kommen wir am Humboldt Krankenhaus in Berlin Reinickendorf an. Den Weg dorthin hat Pauli mir gezeigt. Ich kannte ich nicht. Das kann viel über sein Bewusstsein, seinen Willen und sein Vertrauen aussagen. Beim Betreten baut sich Widerstand ihn ihm auf. Ich erkenne, er hat Angst. Angst vor Ärzten, denen er nicht vertraut. Schlechte Erfahrungen hat er mit ihnen gemacht, sagt er mir. Angst vor Menschen, die ihn wegen seiner „Art“, einem Menschen von der Straße ablehnen. Unsere Stier-Verbindung holt ihn zurück, er vertraut. Wir betreten die Anmeldung. Die Pflegekraft reagiert gelassen und schaft einen tollen Zugang zu ihm. Pauli bleibt in der Situation. Was anschließend kommt, ist der Grund für diesen Post. Im Behandlungsbereich gibt es einen ersten Check durch einen jungen, freundlichen Arzt in Ausbildung. Durch viel gutes Zureden von Stier zu Stier bleibt Pauli stabil. Legt sich auf die Behandlungsliege. Es kann losgehen. Es kommt der diensthabende Arzt. Mitte 50. Brille. Erhaben. Begrüßung bleibt aus. der Blick auf Pauli erfolgt wiederwillens. Seine Worte zu mir: „ach weißt du Kerlchen, das ist ehrbar, aber solche wie ihn, haben wir hier täglich 10fach. In zwei Minuten ist der wieder weg.“ … ich erwidere dem Arzt, dass dieser Mann vor 1,5 Stunden noch nicht einmal in die Nähe eines Rettungssanitäters wollte und nun, das Gefühl von angenommen sein, Umgang auf Augenhöhe … und Vertrauen entwickelt hat. Unverständnis im Gesicht des Arztes. Abgewandt ordnet er eine Röntgenaufnahme an. Zu dieser wird es nicht mehr kommen. Pauli hat sich entschlossen die Notaufnahme lautstark zu verlassen. Jeder weitere Versuch bleibt ohne Wirkung. Kein Stier für Stier mehr. Keine Einsicht mehr, dass sein Daumen eine lebensbedrohliche Situation darstellt. Kein Vertrauen mehr. Pauli macht sich zielstrebig auf in Richtung Bus. Zurück zur Parkbank. Dort, wo er nur der „Typ mit der Wodkaflasche“ ist und alle ihn übersehen. Nicht gesehen werden bedeutet für ihn: nicht enttäuscht werden.

„So ist es: Stier bleibt Stier – das lob ich mir“

Für Pauli

Bitte, egal in welcher Situation, denkt daran:
Worte können verletzten. Worte können zerstören. Worte können töten.

Ich habe größten Respekt für Menschen, gerade in angespannten Berufsfeldern wie z.B. dem Gesundheits- und Pflegebereich (und vielen vielen anderen), die Tag für Tag Einsatz bringen – doch bitte! empathielose Haltung im Umgang mit anderen Menschen kann Brücken zum Einstürzen bringen – dünne Fäden des Vertrauens zerreißen. Wollen wir das?

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